Prosa
(Suhrkamp Verlag)
Es gibt Geschichten, die sich als Fundstücke erweisen. Unbemerkt, gewissermaßen undercover, setzen sie sich im Gedächtnis fest. Oder es trifft uns ihre Strahlkraft von außen wie ein Blitzschlag. Auf einmal treten sie uns aus nächster Nähe vor das Auge, werden aufrüttelnde, irritierende Gegenwart. „Vitrinen“, „Die ruhelosen Wörter“, „Menschen und Blitze“ und „Écrit d’après la nature“, so heißen die vier Abschnitte des Buches. Ein Kind lernt das Lesen und sieht seinen Hund in ein jämmerliches Buchstabenbündel verwandelt. Marlene Dietrichs Nachlaß stellt sich als überraschend befremdlich heraus. Ein Meeresschwimmbecken wird für eine am frühen Morgen dort Badende zu einem spukhaften Schauplatz, dabei ist das unbekannte Tier, das auf dem weit entfernten Beckenrand sichtbar wird, von kaum erkennbarer Kleinwüchsigkeit. Alles dies lebt, hat seine Wirklichkeit, greift über auf uns, die wir nach Worten suchen.
MAGAZINRÄUME
(Archiv der Stiftung Deutsche Kinemathek)
Betrachtet man ihre abgetragenen Schuhe, das Schiefgelaufene, dann glaubt man nicht, dass es die von Marlene Dietrich sind. Sieht man sich diese abgewetzten Seidenpumps an, die Wanderschuhe, seitlich von Steinen gestreift. Und Sohlen, durch Pfützen gelaufen, durch Sand, Staub und Zweige. Hineingetreten, hängengeblieben. Schaut man sich diese Reißverschlüsse an, den Leopardenmantel aus Samt mit den eingenähten Schweißblättern, den Abdruck der Hände, Hauttemperatur, abgelegt auf dem überempfindlichen Gewebe, im Schwarz eines Kleides von Madeleine Vionnet. Dann erkennt man die Spuren des Auf-der-Welt-Seins wie Blut im Gefüge der Adern, wie Herzschlag, wie Summton im Innenohr. Gespeichert, hingetupft in eine Textilie und dort für lange aufbewahrt…
(Aus: „Vitrinen“)
Stimmen
Wysockis Prosaminiaturen gewähren den Augenblicken Asyl, die sich, aus dem Vorher und Nachher gelöst, auftun wie ein Zeitloch. Das Ergebnis ist eine intelligent wuchernde Komposition aus Erinnerungsfragmenten, die sich zur Symphonie eines reichen Künstlerinnen-Lebens zusammenfügen. Sie erlaubt sich ein Scherzo über einen mit der Schöpfung überforderten Gott im Himmel, streut Impromptus ein zu Ehren von Charlie Chaplin, Friederike Mayröcker und Johann Sebastian Bach. Ein herrliches Buch, das den verstreuten und unscheinbaren Lebensaugenblicken für Sekunden etwas „Unverzichtbares und Unausweichliches“ entlockt. Szenen und Denkbilder, die an Kafkas kleine Prosa, an Adornos Minima Moralia denken lassen. (Iris Radisch, DIE ZEIT)
Eine Prosa, die fraglos großartig ist, zugleich zart und erbarmungslos. Sie scheut sich auch nicht, ihre Diktion mit Anglizismen oder umgangssprachlichen Ausdrücken anzureichern. Sie kann die Sätze »Kafkas Erzählung In der Strafkolonie ritzte, furchte ein Wundmal in mein vierzehnjähriges Leben« und »mein Kleid im Fräuleinlook hatte für Verwunderung gesorgt« oder »Darin war Peter Altenberg eine Kanone« im selben Zusammenhang schreiben, ohne dass es unpassend wirkt. (Leander F. Badura, JUNGLE WORLD, 2022/14)https://jungle.world/artikel/2022/14/auf-den-schultern-des-riesen
Seit den frühen Achtzigerjahren ist Gisela von Wysocki eine einzigartige Stimme in der Literatur, als Essayistin, Dramatikerin und Romanautorin. Was ihre neue Prosa so fesselnd und mitreißend macht, ist, dass das betrachtende Ich, von Bruchstellen durchzogen, im selben Moment eine ungekannte Wirksamkeit aufbaut. Sprachskepsis und Versöhnlichkeit. Die 49 Prosastücke sind in vier Kapitel angeordnet, deren Überschriften sich wie ein Leitmotiv lesen: In „Vitrinen“ randalieren „Die ruhelosen Wörter“, die aus „Menschen und Blitze(n)“ herauswollen, Szenen eines „Écrit d’après la nature“. (Rose-Maria Gropp, FAZ)
Von Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« führt eine Spur bis zu »Der hingestreckte Sommer«: die Spur des kindlichen Blicks für das Brüchige, Rissige, Widersprüchliche und Traumatische der Wirklichkeit. Es ist die erstaunliche Fähigkeit Wysockis, diese Wunde bewusst offen gehalten zu haben. Den Wörtern also ihren Eigensinn zu lassen. »Sie wollen aussprechen, was ihnen ins Auge sticht.« Eine präzisere Vermessung der Welt der Sprache, fernab aller Moden des Literaturbetriebs, kann man sich derzeit kaum vorstellen. (Jakob Hayner, Neues Deutschland)
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160999.der-hingestreckte-sommer-von-gisela-von-wysocki-zeugen-ungereimter-verhaeltnisse.html
Die Wörter erlauben mir, bis auf Sichtweite ans Leben heranzukommen. Lesung und Gespräch mit Lothar Müller (Katholische Akademie, Berlin)
https://www.youtube.com/watch?v=fdHliRRqxLs
Die kleine literarische Form dient oft als sicheres Versteck für große Wahrheiten. Gisela von Wysocki ist eine ihrer Meisterinnen. Ein Charakter des Chaplinesken zeichnet die Texte aus. „Komik und Katastrophe“ sind in diesen Prosaminiaturen unablässig am Werk. Im erzählerischen Habitus stark gestisch geprägt, erkennt man in Wysockis Verkleinerungskunst die Schattenrisse von Kafka, Beckett oder Robert Walser.(Meike Feßmann, SZ)
https://www.sueddeutsche.de/kultur/gisela-von-wysocki-der-hingestreckte-sommer-rezension-prosaminiatur-1.5500396
Das Gemälde einer unendlich sich verzweigenden Welt. Ein Ausleuchtungsalbum, ein metaphysischer Katalog der Blickweisen über Ereignisse in unserem Leben, die uns sprachlos machen und doch genau dann hinter unserem Rücken eine neue Wirklichkeit erbauen. (Marica Bodrožić)
Facettenaugen sehen mehr, sie sind in der Lage, durch eine höhere zeitliche Auflösung mehr Bilder pro Sekunde aufzunehmen. Gisela von Wysockis Prosa gibt uns die Möglichkeit, mehr von der Welt, die sie mit Facettenaugen beschreibt, wahrzunehmen, da sie nicht der Narration folgend unaufhaltsam voranstrebt, sondern auch zur Seite springt, neu ansetzt, das Danebenliegende fokussiert. Dadurch verdichtet und intensiviert sie die Weltwahrnehmung ihrer Leserinnen und Leser. (Sebastian Guggolz, Laudatio für den Italo-Svevo-Preis)
Sie seziert das Werk einer Modeschöpferin so akribisch, dass es sich wie ein Fundus von Modellen für Otto Dix oder Neo Rauch liest. Fundus für ein neues Gedicht auch die Gedankensplitter Friederike Mayröckers, wenn sie ihr eigenes Gesicht beschreibt. Sprachlos aber bleibt Gisela von Wysocki, als sie von F.C. Delius aufgefordert wird, über ihre Erfahrung mit T. W. Adorno zu berichten. Letztlich hat sie die richtigen Worte gefunden. (Jan Sting, Kölnische Rundschau)
Der virtuose Wechsel zwischen plastischen Bildern, die Schriftlinie, die wie ein Faden über das Papier läuft, und abstrakten Formulierungen ist typisch für Gisela von Wysocki, die auch mit ihrer Sprache einen ganz eigenen Erzählungsraum schafft; eine starke Sogwirkung entfaltet. Es sind irisierende Gedankenbilder voller Umkehrschübe, in denen sich der Blick auf die Welt und das eigene Selbst verändern. (Maike Albath, „Buchmarkt“, DLF)
https://www.deutschlandfunk.de/gisela-von-wysocki-der-hingestreckte-sommer-dlf-784b4b85-100.html
„Diese Augen halten etwas bereit, das man sonst von nirgendwoher kennt. Dort bleiben. Verweilen“, heißt es in einem der Texte über Friederike Mayröcker. Eine Feststellung, die sich ohne Zweifel auf das gesamte Buch übertragen lässt, das eine ungemeine Sogwirkung entfaltet. (Björn Hayer, „Lesefrüchte“, WDR5)
Nicht zufällig taucht unter den Miniatur-Porträts ein Prosabild von Gabriel Tolkowsky auf, dem berühmte Diamantenschleifer aus Antwerpen. Dessen einzigartige Kunst, einem formlosen Steinklumpen durch raffinierten Schliff ungeahnte Brillanz und Farbigkeit in gleißender, glitzernder Form zu verleihen, lässt sich programmatisch verstehen – als Modell für Wysockis eigenen Schreibstil in seinem ganzen funkelnden Facettenreichtum. (Sigrid Löffler, Radio Bremen)
Kurzprosa mit Langzeitwirkung. Gisela von Wysocki behandelt ihre Figuren als Reisende, denen sie Gestalt und Richtung gibt. So können ihre Prosaminiatuen uns Lesern etwas Heimatgefühl in einer Welt vermitteln, in der wir nach Überzeugung der Autorin nicht zu Hause sind. (Rainer Rönsch, in literatur.de)
„Schön absurd, oder?“ Gespräch mit Michael Angele über Motive und Schreibweisen des HINGESTRECKTEN SOMMER(DER FREITAG)
https://www.freitag.de/autoren/michael-angele/schoen-absurd-oder
„Lesart“ (DLF). „En passant erlebte Geschichten“ (Gespräch mit Joachim Scholl)
https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-hingestreckte-sommer-en-passant-erlebte-geschichten-dlf-kultur-9c93865f-100.html
Ich würde dieses Buch in die Tradition von Walter Benjamins Berliner Kindheit stellen. Auch in die Alexander Kluges, in der Art, immer alles ausdeuten zu wollen und in Gedanken zu übersetzen. Dieses Buch ist nicht fertig mit dem Leben. Ein Erzählen, das auf Entdeckungsreise geht, ein jung gebliebener Blick. (Jörg Magenau, rbb Kultur)
https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/der_morgen/archiv/20211216_0600/literatur_0845.html
Von Wysocki schreibt Sätze und Geschichten, in denen man für immer verweilen möchte. Die Sprache ist ihr eine Verbündete in der Begegnung mit der Unfaßbarkeit der Welt, und man ist sehr dankbar, lesend an diesem Bündnis teilhaben zu dürfen. (Kathrin Witter, Literarische Welt)
Ihr neues Prosabuch sprengt die Linearität des Erzählens, fächert die Darstellung auf zu einem leuchtenden Mosaik aus Prosatexten. Skizzen, Mikroerzählungen, Portraits. Bereits in den ersten beiden Stücken werden die Motive von musikalischem Genie und menschlicher Vergänglichkeit zusammengeführt. Ausgehend von diesen memento-mori-Geschichten schildert Wysocki prägnante Urszenen. (Michael Braun, Tagesspiegel)