Mitteilungen über das menschliche Gesicht
Prosa
(Europäische Verlagsanstalt)
Das Gesicht, ein Haut- und Knochenwerk. Gemeisselt, auskomponiert. In seiner Materialität liegt Gestisches gespeichert, in seiner Erscheinung etwas Anonymes. Die Beziehung zum eigenen Gesicht ist die Beziehung zur eigenen Theatralität. Man hat sich einzulassen auf ein Phantasieobjekt. Einerseits seine Präsenz, andererseits sein gefühltes Inkognito. Nicht leicht, es in den Griff zu bekommen. Als Metapher, als historischer Raum? Als Körperleben, Schicksal, ästhetisches Ereignis? Die Portraits bilden die Versuche einer Lesbarmachung ab: von Motiven, Einfällen; von plötzlichen Entdeckungen emotionaler Dunkelzonen.
Den „Physiognomikern“ dieses Buches, es sind rund siebzig, begegnete ich in grossen und kleinen Küchen, in Kaffeehäusern, Hotelzimmern, in Hochhäusern und Gartenhäusern; in Fluren, auf Parkplätzen und in fahrenden Zügen.
Das eigene Gesicht: in seiner ungewöhnlichen Form. Fast viereckig. Ein slawisches, bäuerliches Gesicht mit großen Flächen. Es hat viel Platz, es kann ganz unbekannt werden. Jenseits der Bizarrerie und des Grotesken. Wiederspiegelung eines Kulturkreises, tschechisch-jüdisch, rumänisch. Herkunftsorte, die hierzulande verachtet werden. Mit dem Haar ist nicht viel zu machen, keine Frisur. Kein elegantes Hochstecken. Da zeigt sich am stärksten ein Eigensinn. Ich. (E.J. 1946, Wien)
Stimmen
Jede Geschichte geht aufs Tutti – bekenntnishaft und poetisch-assoziativ, sprunghaft und spontan. Rund siebzig Personen haben Gisela von Wysocki Rede und Antwort gestanden: Schriftsteller und Anthropologen, Schauspieler, Telefonisten und Modeschöpfer. Es entsteht hier ein Grad an Verfremdung, der den Sprung in eine existentielle Dimension ermöglicht. (Ilma Rakusa, manuskripte, Graz, Heft 130)
Sie schreibt nicht mit Distanz, sie schreibt mit Haut und Haaren. Im Inneneinband des Buches sind die siebzig Gesichter als kleine Passbildchen abgebildet. Keines von ihnen möchte man näher kennenlernen. Die Wortmasken der Gisela von Wysocki sind ja wohl schöner, witziger, tragischer, manchmal auch böser als die Gesichter, denen sie abgenommen wurden. (Gerhard Stadelmaier, FAZ)
Die Autorin, avancierte Grenzgängerin zwischen den Gattungen, hat sich hier zum Medium fremder Erzählungen gemacht und die Erzähler zu Souffleuren ihrer Gesichtsgeschichte. Für den einen ein Vorhang aus Muskeln und Haut, für den anderen Bildfläche des Lebens, für den dritten Tarnkappe und Bühne. (Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung)
Männer entlarven sich selbst und merken es gar nicht einmal. Frauen spielen, suchen, stellen Fragen. Sie schminken ihren Mund „gefrässig“, mimen den Clown. Sie fragen sich, wie das Leben hätte verlaufen können, etwa mit blauen Augen? Anders auf jeden Fall. (Christoph Neidhart, Die Weltwoche, Zürich)
„Schwierig, über das eigene Gesicht zu sprechen. Man hat es nicht gelernt“, so bekennt eine der Stimmen. Und doch kommen sie alle dann schön in Fahrt, stockend manchmal, widerwillig vielleicht, aber unüberhörbar süchtig, vernarrt in dieses Abbild, Zerrbild, diesen Schutzschild. (Reinhard Baumgart, Die Zeit)
Wäre hier pausenlos von „meinem Mund“, von „meinen Augen“, die Rede gewesen, es hätte diese Gespräche in eine andere Textsorte verwandelt. Aber diese Gesichtserzählungen ziehen sich von „Ich“ und „Du“ zurück wie das Meer bei Ebbe und Flut. (Claudia Schmölders, Frankfurter Rundschau)
„Das Gesicht ist eine feindliche Macht“, sagt eine argentinische Psychologin. Gisela von Wysocki: „Das Gesicht – ja, wie ist es? Eigenmächtig!“ (Josefine Janert, Der Tagesspiegel)
Es gibt Geschichten und Fragmente, Essays und lyrische Passagen, die, sich überlagernd, zu einem heterogenen Bild des menschlichen Gesichts, zu jener Erscheinung werden, die sich der verbindlichen Beschreibung entzieht. (Belinda Gardner, Hamburger Rundschau)